Brief an Rektor Engler

[’solid].sds Tübingen hat einen offenen Brief an Unirektor Engler geschrieben, darin geht es um farbentragende Burschenschaften und um die Ökonomisierung der Hochschulbildung.

Tübingen, 13. Dezember 2007

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Engler,

am 26. November fand ein Gespräch zwischen den Mitgliedern des Rektorats und Vertretern studentischer Gruppen statt. Im Zuge dieses Gesprächs wiesen Sie darauf hin, dass, falls es von studentischer Seite Beschwernisse gebe, man sich an Sie wenden könne. Dieses Angebot nehmen wir mit diesem Brief dankend in Anspruch.

Es gibt zwei Punkte, die wir vorbringen wollen:

1.
Zunächst waren bei dem Gespräch viele farbentragende Burschenschafter anwesend, augenscheinlich, ohne dass es Sie gestört hat. Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass laut einem Senatsbeschluss von 1961 das Farbentragen auf dem Universitätsgelände nicht gestattet ist (Entschließung des Großen Senats der Universität Tübingen über die studentischen Gemeinschaften vom 22. Februar 1961, Punkt 5: „Farben werden in der Universität, ihren Kliniken, Instituten und Seminaren sowie auf dem Gelände der Universität (einschließlich des Schollplatzes) nicht getragen; Gleiches gilt für gemeinsame Veranstaltungen der Universität und der Studentenschaft.“).
Seit Jahren wird dieser Beschluss von Verbindungen ignoriert; von der Universitätsleitung wird diesen gestattet, farbentragend bei universitären Veranstaltungen aufzutreten. Wir möchten Sie fragen, weshalb Sie sich über den betreffenden Senatsbeschluss hinwegsetzen und offenbar die konservativen Seilschaften gegenüber eher linken studentischen Interessenvertretern bevorzugen. Dass Sie das tun, leiten wir unter anderem aus dem Sachverhalt ab, dass, wie Sie beim Gespräch mit den studentischen Gruppen eingangs bemerkten, die Möglichkeit für studentische Gruppen, mit Ständen zu informieren, drastisch eingeschränkt werden soll (wodurch natürlich vor allem kritische Öffentlichkeitsarbeit verhindert wird) und Sie in diesem Zusammenhang davon sprachen, es könne nicht angehen, dass die Universität zum „Glühweinzentrum“ werde – gleichzeitig aber taten Sie den Einwand, dass beim Dies Universitatis die Burschenschaften Alkohol ausschenken, mit einem doch sehr halbherzigen Appell an diese ab, sie müssten in Zukunft „eben auch etwas Nichtalkoholisches vorrätig“ haben. Wir sehen darin eine eklatante Ungleichbehandlung.
In Punkt 8 des genannten Senatsbeschlusses heißt es: „Die Universität wird solchen Gemeinschaften, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Mitglieder, gegen diese Grundsätze verstoßen, ihre Missbilligung aussprechen und in schweren Fällen ihr Vertrauen entziehen. Hierüber entscheidet der Kleine Senat. Der Entzug des Vertrauens muss bekannt gegeben werden.“ – Wir möchten Sie darum bitten, diesen Beschluss durchzusetzen.
Um zu verdeutlichen, um was für Vereinigungen es sich teilweise bei den Tübinger Burschenschaften handelt, wollen wir an dieser Stelle noch einen beispielhaften Eintrag aus einem Diskussionsforum über dieses Thema anführen. Eine Tübinger Studentin schrieb dort: „wollt mich eigentlich aus der diskussion heraushalten. es gibt ganz klar viele leute in verbindungen, die ok sind. aber leider ist mir im laufe der jahre so die eine oder andere ausländerfeindliche parole zu ohren gekommen, und ich behaupte sehr viele verbindungen und burschenschaften zu kennen. da waren die leute, die ‚so tolle‘ bücher von ‚herrn doktor goebbels‘ (o-ton, der war bei mir im semester und bei der ulmia) hochhielten und so richtig ins schwärmen verfielen. meinem freund wurde von einem mitglied der germania (die unten bei der neckarbrücke) angetragen, doch bitte nur deutsche mädels zu vögeln. damit war ich gemeint. eine freundin, welche kolumbianerin ist, wurde von einem mitglied der westphalia als negerschlampe bezeichnet. ein mitglied von den germanen hier bei mir in der hirschauerstraße sagte o-tonmäßig zu mir, dass ich halbinderin ja grad noch so durchginge und wenn ich türkin gewesen wär er nicht mit mir reden würde. der typ lebte übrigens in südafrika und erzählte von seinen negersklaven und wie ‚toll‘ (ironisch) er mit diesen umginge… etc… etc… wie schon gesagt, das ist nur ein auszug von meinen erlebnissen mit burschenschaften und verbindungen. mir ist es einfach zu blöd jeden kram hier aufzulisten. und im endeffekt sind sie zu uns frauen auch nur so nett, weil sie einen flachlegen wollen… ich hoffe das war jetzt differenziert genug für manchen hier…. es gibt wie immer im leben auch andere aber leider findet man gehäuft in burschenschaften und verbindungen sehr viel rechtsextremes gedankengut!“ (shalia29, 20.10.2006, http://www.tuefo.de/forums/archive/index. php/t-7408.html).
Die rechtsextreme Tendenz von Burschenschaften ist hinlänglich bekannt, zumal in Tübingen, wo aus diesem Grund im vergangenen Mai nach Angaben des Schwäbischen Tagblatts 4500 Personen gegen das traditionelle Maisingen von 250 Verbindungsstudenten des „Tübinger Waffenrings“ protestierten. Von Seiten der Universität aber werden die reaktionären Seilschaften weiterhin hofiert. Aus den angeführten Gründen haben wir dafür nur Unverständnis übrig und wären dankbar für eine Erklärung für dieses Verhalten der Universitätsleitung.

2.
Im Moment findet außerdem eine noch nie da gewesene Umstrukturierung des Hochschulwesens nach wirtschaftlichen Kriterien statt – eine historische Weichenstellung zugunsten eines Zwei-Klassen-Hochschulsystems, in dem sich materielle Zuwächse künftig nur noch auf eine Handvoll „Leuchttürme“ innerhalb eines Systems konzentrieren werden, das seit mehr als 20 Jahren strukturell unterfinanziert ist und das die Mehrheit der Studierenden demnächst mit billigen Kurzstudiengängen – „Bachelor“ – abzuspeisen gedenkt. Wirtschaftlich nicht verwertbare Fächer werden nicht mehr finanziert und im Zuge der Umstellung der Studiengänge gestrichen.
Dass Sie diese Entwicklung mittragen, wurde uns nicht zuletzt bei besagtem Gespräch bewusst, bei dem Sie beispielsweise anstatt von Bildung nur noch von „Serviceleistungen“ sprachen. Die Befürchtung unseres Studierendenverbandes ist, dass im Zuge der Umstrukturierung des Hochschulwesens die akademische Vielfalt eingeschränkt und die soziale Auslese verstärkt wird. Bei der Konstruktion von „Eliten“ – denn der Exzellenzwettbewerb produziert erst künstlich die Unterschiede, die zu messen er vorgibt – handelt es sich letztlich um ein Privilegierungsprogramm für eine Minderheit und die Brauchbarmachung der Masse der Studierenden für die Bedürfnisse der Wirtschaft. Möglichst viele Menschen sollen in möglichst kurzer Zeit durchs Studium geschleust werden, welches für die Masse auf eine berufsausbildende Funktion beschränkt wird, während das wissenschaftliche Studium einer zahlenmäßig beschränkten, aber zahlungskräftigen Elite vorbehalten bleiben soll.
Das deutsche Bildungssystem ist bereits äußerst selektiv. In keinem anderen Industrieland hängen die Bildungschancen mehr von der sozialen Herkunft eines Kindes ab als in Deutschland. Nach Informationen des Studentenwerks entstammten 2003 lediglich 12 % aller Studierenden der ökonomischen Herkunftsgruppe „niedrig“, während der Anteil von Studierenden aus der Gruppe „hoch“ dreimal so hoch war. 1982 lag der jeweilige Anteil noch bei 23 % (niedrig) und 17 % (hoch). Im Zuge der Exzellenzinitiative wird nun künstlich ein Wettbewerbsverhältnis zwischen den Universitäten geschaffen, die dadurch zu Bildungsunternehmen werden. Absolventen werden zu Humankapital, Bildung zur Ware – für diejenigen, die es sich leisten können. Denn mit der Einführung von Studiengebühren wurde eine Eintrittsgebühr zur Universität erhoben, die eine Hürde mehr für Abiturienten aus finanziell schwachen Elternhäusern darstellt und so die ohnehin schon starke soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems noch steigert.
Ihre starke Orientierung am amerikanischen Modell, die Sie bei dem Gespräch mit den studentischen Gruppen schon allein durch Ihren Sprachgebrauch („campus“, „front office“, „back office“ etc.), aber auch explizit („Das habe ich in Amerika gelernt“…) zum Ausdruck gebracht haben, halten wir in diesem Zusammenhang für unverantwortlich, kann man dort doch bereits sehen, was da auf uns zukommen wird. Wie der aktuelle UniSPIEGEL (6/2007, S. 16f.) berichtet, zwingen in den USA immer höhere Studiengebühren viele Studenten dazu, sich für Jahre zu verschulden. Es heißt dort: „Mit schätzungsweise 85 Milliarden Dollar stehen amerikanische Studenten in der Kreide. Sie brauchen das Geld vor allem, um die Studiengebühren aufzubringen, die schneller als die allgemeine Preissteigerung galoppieren. In diesem Jahr sind die Gebühren um 6,6 Prozent gestiegen. Mehr als 6000 Dollar kostet die Ausbildung an einer staatlichen Universität ohne Unterkunft und Verpflegung jährlich. An privaten Unis schnellten die Preise um 6,3 Prozent nach oben – auf 24 000 US-Dollar.“ Knapp 30 % der Kredite stammen von privaten Anbietern, die den Unis oft viel Geld bezahlen, damit nur sie den Studenten empfohlen werden, und nicht die staatlichen Kreditanbieter. Dies ist nur ein Beispiel dafür, was passiert, wenn die Wirtschaft sich die Hochschulen als neuen Markt erschließt.
Sie selbst vertreten mit Ihrer Professur eine Geisteswissenschaft, haben sich aber in Ihrer Funktion als Rektor augenscheinlich der neuen Doktrin der unbedingten wirtschaftlichen Verwertbarkeit von Bildung untergeordnet. Nur 25 % der im Elitewettbewerb geförderten Graduiertenschulen und Cluster gehören zu den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, obwohl ihr Anteil in der zweiten Runde des Wettbewerbs bereits gesteigert wurde.
Insgesamt findet eine immer stärkere Einflussnahme von Wirtschaftsunternehmen auf die Hochschulen statt. Ein Hörsaal am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der FU Berlin wird bereits von der Commerzbank gesponsert; der Telekommunikationskonzern Vodafone wird als erstes Industrieunternehmen Partner der Exzellenzinitiative und plant, Sponsoringverträge mit den ersten drei Elite-Unis abzuschließen. Halten Sie dies wirklich für eine gute, gegenüber dem Ideal einer objektiven und freien Wissenschaft vertretbare Entwicklung? – Widersprechen Sie uns bitte, wenn dem nicht so ist – wir würden uns freuen –, aber anscheinend tun Sie genau das; immerhin lässt die Universität Tübingen beispielsweise Schreiben verschicken, in denen CHE, das von der Bertelsmann-Stiftung 1994 gegründete sog. „Gemeinnützige Centrum für Hochschulentwicklung GmbH“, die Studierenden zur Teilnahme am „CHE-HochschulRanking 2008“ auffordert. Wir bitten Sie um eine Stellungnahme hierzu. Wir bitten Sie dabei zu berücksichtigen, was für Ziele die Lobbyisten des CHE letztlich haben: Die „Eliteuniversitäten“ sollen sich ihre Studierenden etwa komplett selbst aussuchen können, sie sollen von der Obergrenze der Studiengebühren befreit werden und über die Zahl der aufgenommenen Studierenden selbst entscheiden – derzeit sind ja noch alle Hochschulen verpflichtet, eine maximale Zahl von StudienbewerberInnen aufzunehmen, was einmal etwas mit „Chancengleichheit“ zu tun hatte…
Das CHE hat die Rechtsform einer GmbH. Seine „private Rechtsform und dennoch öffentlichen Funktionen“, so Martin Bennhold, Professor für Rechtssoziologie und Mitglied des Bunds der demokratischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWI), garantieren ihm „Unabhängigkeit“, was nichts anderes bedeute, als dass es „frei von allen noch so indirekten demokratischen Kontrollen nur dem Konzernkapital gegenüber verpflichtet“ sei. „Das CHE ist niemandem als nur dem hinter ihm stehenden, machtvollen Kapital verantwortlich. Es handelt sich hier zum einen um den organisatorischen Hebel einer ökonomisch gewaltigen und medial erfahrenen Einflussgruppe […], zum anderen jedoch auch um eine Einrichtung, die angetreten ist, den privaten Bereich, in dem sie zunächst agiert, mit öffentlichen Funktionen aufzuladen“ (www.erzwiss.uni-hamburg.de/Personal/Lohmann/Mate-rialien/bennhol.htm).
Seitdem Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und CHE kooperieren, haben sich die Positionen der HRK, zum Beispiel in der Positionierung zu Studiengebühren, grundlegend geändert. Die anvisierten Ziele des CHE scheinen v.a. beim Thema Studiengebühren realisiert. Das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren (ABS) hält die Unterstützung des CHE durch die HRK nicht für tragbar und forderte diese bereits 2004 dazu auf, sich aus dem CHE zurückzuziehen, was leider nicht erfolgte. Man kann sich fragen, welche Rolle die finanziellen Zuwendungen des CHE bei den Entscheidungen der HRK spielten. Auch die Verflechtungen mit der Politik sind offensichtlich: Im CHE-Beirat finden sich nicht nur die „Elite“-Universitäten München und Aachen, sondern ebenso die Minister Frankenberg (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Baden-Württemberg) und Zöllner (Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Berlin). – Die hochschulpolitischen Forderungen des CHE stimmen weitgehend mit denen der Wirtschaft überein. Das Zentrum hat „faktisch die Definitionshoheit über den Bildungsbegriff in der Bundesrepublik Deutschland erlangt. Definitionen werden besetzt und umgedeutet: Die ‚Reform‘ wird zu einer Abkehr vom humboldtschen Bildungsideal, und als ‚Qualität‘ gilt all das, was das CHE durch Rankings und Benchmarks vorgibt“ (Andreas Stahl: Wegbereiter des Rückschritts. Bertelsmanns Rolle in der Entwicklung der Hochschulen, in: analyse & kritik 522, S. 14).
Auf dem ver.di-Bundeskongress im Oktober wurde beschlossen, die Zusammenarbeit von ver.di mit Bertelsmann zu unterbinden. Die Aktivitäten des Konzerns rücken verstärkt ins Blickfeld einer sensibilisierten Öffentlichkeit. Wir hoffen, dass es noch nicht zu spät ist, die Zerstörung der Hochschule humboldtscher Prägung aufzuhalten und möchten Sie noch einmal bitten, ihr derzeitiges Handeln dem Ideal einer objektiven und freien Wissenschaft gegenüberzustellen und eine Gewissensentscheidung zu treffen.

Mit freundlichen Grüßen und der Erwartung einer Stellungnahme Ihrerseits,

das Plenum der Hochschulgruppe

[’solid].SDS
Linkes Forum, Am Lustnauer Tor 4
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